Der Europäische Gerichtshof äußert sich zur Arbeitnehmerüberlassung

Seit Jahrzehnten ist es in Deutschland umstritten, über welchen Zeitraum hinweg ein Leiharbeitnehmer bei dem entleihenden Unternehmen eingesetzt werden darf, ohne, dass zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Entleiher ein Arbeitsverhältnis entsteht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) gibt in seiner Entscheidung vom 17.03.2022 Az.: C-232/20 weitere Auslegungshinweise zu dem Begriff „vorübergehend“. Nach dem EuGH kann es unter Umständen rechtens sein, einen Leiharbeiter über Jahre hinweg an einem Arbeitsplatz zu beschäftigen. 

Der Fall

Hintergrund ist ein Rechtsstreit zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Entleiher aus Deutschland. Der Kläger war als Leiharbeiter seit dem 01.09.2014 für insgesamt 55 Monate bei einem beklagten Leiharbeitsunternehmen im Bereich Motorenfertigung tätig. In dem Betrieb der Beklagten fand der Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg Anwendung. Der Tarifvertrag als auch die bei der Beklagten geltende Gesamtbetriebsvereinbarung legte eine maximale Überlassungsdauer von 36 Monaten fest. Die in Rede stehende Beschäftigung diente nicht der Vertretung eines Arbeitnehmers.

Der Leiharbeitnehmer erhob Klage vor den nationalen Arbeitsgerichten und beantragte festzustellen, dass aufgrund der Überschreitung der maximalen Arbeitnehmerüberlassungsdauer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen ihm und dem entleihenden Unternehmen besteht und die Überlassungsdauer von 55 Monaten somit nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden könne.

Vorlage mehrerer Fragen des LAG Berlin-Brandenburg an den EuGH

Da der Begriff „vorübergehend“ anhand der in der europäischen Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG vom 19.11.2008 enthaltenen Vorgaben auszulegen war, legte das LAG Berlin-Brandenburg dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen u.a. folgende Fragen vor:

Ist eine Überlassung eines Leiharbeiters nicht mehr als „vorübergehend“ gemäß Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104 anzusehen, wenn er auf einem dauerhaft vorhandenen Arbeitsplatz beschäftigt wird, der auch nicht vertretungsweise besetzt wird?

Kann eine Gesamtüberlassungsdauer von 55 Monaten noch als „vorübergehend“ gewertet werden?

Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?

Bisherige Rechtslage

Die gesetzlichen Anforderungen an eine zulässige Arbeitnehmerüberlassung sind in dem sog. Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geregelt. Das AÜG wurde im Jahr 2017 reformiert. Vor dem 01.04.2017 enthielt das AÜG lediglich das Erfordernis, dass eine Überlassung „vorübergehend“ erfolgen soll. Eine Höchstdauer wurde nicht gesetzlich normiert. Weiterhin wurden Verstöße gegen das Merkmal „vorübergehend“ nicht sanktioniert. Seit dem 01.04.2017 ist nunmehr gemäß § 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1 b) S. 1 AÜG die Überlassung von Arbeitnehmern bis zu einer Höchstdauer von maximal 18 Monaten zulässig. Nach § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG kann die nach S. 1 gesetzlich normierte maximale Überlassungsdauer von 18 Monaten, wie in vielen Branchen üblich, durch Tarifvertrag des Entleihers ausgedehnt werden. Wird die in dem AÜG gesetzlich geregelte Überlassungshöchstdauer überschritten und nichts anderes tariflich geregelt, so sind die Arbeitsverträge zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 b AÜG unwirksam. Im Falle der Unwirksamkeit des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG. Es entsteht damit zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Entleiher ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 werden nunmehr bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1 b AÜG nicht berücksichtigt. Nach wie vor besteht allerdings Uneinigkeit darüber, wann eine Arbeitnehmerüberlassung noch als „vorübergehend“ gewertet werden kann.

Die Begründung des EuGH zu den Vorlagefragen des LAG

Nach Ansicht des EuGH ist von einer „vorübergehenden“ Überlassung gemäß Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104 auszugehen, wenn der Leiharbeitnehmer auf einem dauerhaft vorhandenen Arbeitsplatz beschäftigt wird, der auch nicht vertretungsweise besetzt wird. Anderweitiges gebe bereits der Wortlaut der Leiharbeitsrichtlinie nicht her. Der Begriff „vorübergehend“ beziehe sich ausschließlich auf die Dauer des Einsatzes eines Leiharbeiters und nicht auf den Arbeitsplatz selbst. Demnach ist es zulässig, einen Leiharbeiter auf einem Dauerarbeitsplatz bei einem Kunden zu beschäftigen, auch wenn der Arbeitsplatz nicht vertretungsweise besetzt wird.

Die Frage, ob eine Gesamtüberlassungsdauer von 55 Monaten noch als „vorübergehend“ gewertet werden kann, lässt der EuGH jedoch offen. Allerdings wurde seitens des EuGH darauf hingewiesen, dass der jahrelange Einsatz eines Leiharbeiters auf demselben Arbeitsplatz durchaus rechtsmissbräuchlich sein kann. Werde ein Leiharbeitnehmer bei demselben Unternehmen auf demselben Arbeitsplatz über einen längeren Zeitraum eingesetzt, ohne, dass es eine objektive Erklärung für den Abschluss von mehreren nacheinander folgenden Überlassungsverträgen gibt, so sei von einer missbräuchlichen Überlassung auszugehen. Allerdings müssen hierbei weitere Umstände, wie beispielsweise Besonderheiten in der Branche und die nationalen Vorgaben berücksichtigt werden. Der EuGH überlässt die Beurteilung im konkreten Einzelfall somit den nationalen Gerichten. Damit liefert der EuGH in seiner Entscheidung keine vollständige Klarheit über den Begriff „vorübergehend“, sondern überlässt dies den nationalen Gerichten.

Weiterhin stellte der EuGH zumindest klar, dass Regelungen in Tarifverträgen, die Einsatzzeiten von mehr als 18 Monaten regeln, nicht per se einen Verstoß gegen das EU-Recht darstellen. Dies sei auch dann zulässig, wenn die Tarifverträge für die Branche des Entleiherunternehmens geschlossen werden. 

Fazit

Das Urteil des EuGH schafft keine Klarheit über die Auslegung des Begriffs „vorübergehend“, sondern beinhaltet lediglich Auslegungshinweise. Zulässig bleibt die Verlängerung von Leiharbeitsverträgen über einen längeren Zeitraum hinweg, auch, wenn es sich um einen Dauerarbeitsplatz handelt, der nicht nur vertretungsweise besetzt wird. Hinsichtlich der Frage zur Festlegung absoluter zeitlicher Höchstgrenzen für die Überlassung eines Leiharbeiters bei dem Entleiher spielt der EuGH den Ball jedoch den nationalen Gerichten zu. Daher müssen die deutschen Gerichte nach wie vor entscheiden, ob die Überlassung im Sinne des § 1 Abs. 1 AÜG noch als vorübergehend einzustufen ist, wenn ein Leiharbeitnehmer aufgrund eines Tarifvertrages länger als 18 Monate bei einem Entleiher eingesetzt wird.


Autorin: Vivien Demuth (Rechtsanwältin)