BAG: Pflicht zur Zeiterfassung, ein Paukenschlag!

Bereits seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 14.05.2019, Az. C-55/18, die in unserem Newsletterartikel von November 2021 näher beurteilt wurde, hat das Thema Arbeitszeiterfassung neue Präsenz erfahren. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einer bahnbrechenden Entscheidung mit Beschluss vom 13.09.2022, Az. 1 ABR 21/22 (Pressemitteilung 35/22) entschieden, dass trotz bisher fehlender konkreter gesetzlicher Regelungen eine Pflicht zur Zeiterfassung der Arbeitszeiten besteht.

Sachverhalt

Der Fall begann relativ harmlos mit einem Streit um die Kompetenzen eines Betriebsrates im Rahmen der Mitbestimmung über die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems einer vollstationären Wohneinrichtung. Der Betriebsrat hat bei der Einführung eines Zeiterfassungssystems gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG über die Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, mitzubestimmen. Allerdings kam dem Betriebsrat hierbei kein Initiativrecht zu.

Nachdem der Arbeitgeber mehrere Verhandlungen mit dem Betriebsrat zum Anschluss einer Betriebsvereinbarung über die Einführung eines Zeiterfassungssystems durchführte, brach er schließlich die Verhandlungen hierüber ab und nahm von der Einführung eines solchen Systems Abstand. Daraufhin rief der Betriebsrat die Einigungsstelle an, welche als außerbetriebliche Schlichtungsstelle im Falle von Unstimmigkeiten zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebstrat eine verbindliche Entscheidung trifft. Jedoch setzte die Einigungsstelle die Verhandlungen aus, da unklar war, ob diese zuständig ist, wenn der Betriebstrat auf eigene Initiative hin, eine verbindliche Regelung zur Einführung eines Zeiterfassungssystems wünsche. Diese Frage müsse im Rahmen eines gerichtlichen Beschlussverfahrens geklärt werden.

Vorinstanzliche Entscheidungen

In der erstinstanzlichen Entscheidung des Arbeitsgerichtes Minden (Beschluss vom 15.09.2020, Az.: 2 BV 8/20) wurde ein Initiativrecht des Betriebsrates abgelehnt. Das Mitbestimmungsrecht zur Einführung von technischen Zeiterfassungssystemen sei lediglich als Abwehrrecht des Betriebsrates zum Schutz der Arbeitnehmer zu verstehen. Dies sah das Landesarbeitsgericht (Beschluss vom 27.07.2021, Az.: 7 TaBV 79/20) anders und sprach dem Betriebsrat hingegen ein Initiativrecht zu.

Entscheidung des BAG

Das BAG beurteilte die Sache völlig anders und wies den Antrag des Betriebsrates zurück. Das BAG war der Ansicht, es komme auf die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zustünde, gar nicht an. Der Betriebsrat habe nach § 87 Abs. 1 BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht bestünde. Eine gesetzliche Grundlage ergebe sich aus der europarechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Gemäß dieser Norm hat der Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“. Damit sei auch die Pflicht verbunden, bereits jetzt sämtliche Arbeitszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erfassen. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gelte auch unabhängig davon, ob ein Betriebsrat besteht. Wie ein solches Zeiterfassungssystem konkret ausgestaltet sein muss, ist aufgrund der bislang durch das BAG veröffentlichen Pressemitteilung noch ungeklärt.

Bisherige Rechtslage zur Arbeitszeiterfassung

Bisher hat der deutsche Gesetzgeber die in dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019, Az. C-55/18 erlassenen Bestimmungen zur Zeiterfassung nicht umgesetzt. Der deutsche Gesetzgeber hat jedoch bereits seit Jahren folgende gesetzliche Verpflichtungen zur Zeiterfassung geregelt:

Der Arbeitgeber ist gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG dazu verpflichtet, die über 8 Stunden hinausgehende werktägliche Arbeitszeit der einzelnen Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Diese Pflicht gilt auch bei sog. Vertrauensarbeitszeit. Somit müssen tägliche Arbeitszeiten, die acht Stunden nicht überschreiten, nicht von dem Arbeitgeber aufgezeichnet werden. Übt der Arbeitnehmer seine Arbeitstätigkeit hingegen während der Sonn- oder Feiertage aus, muss die gesamte Arbeitszeit aufgezeichnet werden, d.h. es ist eine Erfassung ab der ersten Stunde notwendig. Zudem ist der Arbeitgeber gemäß § 16 Abs. 1 ArbZG dazu verpflichtet, die in dem Betrieb geltenden Arbeitszeitvorschriften (ArbZG, Rechtsverordnungen, Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen. Die Arbeitszeitaufzeichnungen sind gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG mindestens zwei Jahre lang vom Arbeitgeber aufzubewahren.

Fazit

Die Entscheidung des BAG stößt bereits jetzt auf viel Kritik. So kritisiert die Arbeitgebervereinigung BDA das Urteil scharf und sieht die Entscheidung als „überstürzt und nicht durchdacht“ an. Laut dem BDA werde der Anwendungsbereich des ArbSchG deutlich überdehnt. Hingegen freut sich beispielhaft der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU)  über die höchstrichterliche Entscheidung des BAG: „Denn ich habe nie verstanden, dass bei Menschen, die nach Stundenlohn bezahlt werden, die Stunden nicht aufgeschrieben werden.“ Er fordert eine rasche Umsetzung des Urteils in der Unternehmenspraxis.

Nach der Entscheidung des BAG kann sich ein Arbeitgeber nunmehr nicht mehr darauf stützen, dass das Urteil des EuGH zunächst durch den deutschen Gesetzgeber umgesetzt werden müsse und bis dahin weiterhin, mit Ausnahme der bereits gesetzlich geregelten Fälle, auf eine Zeiterfassung verzichtet werden könne. Nunmehr ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vollständig zu erfassen. Damit müssen Unternehmen auch ihre praktizierte Vertrauensarbeitszeit unverzüglich überdenken. Es bleibt abzuwarten, welche konkreten Anforderungen an die Ausgestaltung der Zeiterfassungssysteme gestellt werden.

Autorin: Vivien Demuth (Rechtsanwältin)